A. Die Archivalien der Staatlichen Archive Bayerns vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart – eine quellenkundliche Einführung (Bearbeiter: Prof. Dr. Joachim Wild)
1. Frühmittelalter (vor 900)
Die Archivbestände der Staatlichen Archive Bayerns reichen bis in das ausgehende 8. Jahrhundert zurück. Unter den Königen des Frankenreichs aus dem Haus der Merowinger und anschließend vor allem der Karolinger war in Anknüpfung an Verwaltungstraditionen der spätrömischen Kolonialzeit eine erstaunliche Qualität und Dichte der Schriftlichkeit erreicht worden. In Bayern überdauerten jedoch fast nur Urkunden als der rechtsverbindliche und beweiskräftige Abschluss eines Rechtsgeschäfts die Jahrhunderte des Frühmittelalters. Lediglich aus den Kanzleien der Bischofssitze Salzburg, Freising, Regensburg und Passau haben sich einige wenige Verwaltungshandschriften erhalten, die allerdings nur Urkunden in abschriftlicher Form überliefern. So sind aus dem Bistum Freising für die Zeit zwischen 744 und 903 insgesamt 1038 Privaturkunden überliefert, die Königs- und Papsturkunden nicht mitgerechnet. Die Urkunde war das hauptsächliche und – aus heutiger Sicht – fast einzige Schriftzeugnis frühmittelalterlichen Rechts- und Verwaltungslebens.
2. Hochmittelalter (900-1250)
Der Zerfall des Karolingerreichs um 900 führte auch zu einem tiefen Einbruch in der Schriftlichkeit. Mit den politischen Umwälzungen und den vielen kriegerischen Ereignissen ging ein kultureller Niedergang einher, der erst um die Jahrtausendwende gestoppt und ein Aufschwung eingeleitet werden konnte. Nun gründeten fromme Adelige neue Klöster, besiedelten zugrunde gegangene wieder, und in den Skriptorien der Klöster und Domstifte schrieben die Mönche reich illuminierte Handschriften, die heute den kostbarsten Schatz aus dieser Zeit bilden. Auch im Rechts- und Verwaltungsleben ist die Kehrtwende zu greifen; die Beurkundungen nehmen rasch zu und finden ihren Niederschlag in den Traditionsnotizen, die die frühmittelalterliche Urkundenform der Charta inzwischen abgelöst haben. Zu Tausenden werden sie abschriftlich in die Traditionsbücher der geistlichen Institutionen eingetragen und spiegeln das Rechtsleben der Bevölkerung wieder. Aber auch die Urkunden der Könige, Fürsten und Bischöfe wachsen rasch an Zahl.
Vereinzelt schon im 11. Jahrhundert, verstärkt dann ab dem 12. Jahrhundert, kommt eine neue Quellengattung auf, die im Prinzip die Karolingerzeit auch schon gekannt und verwendet hatte: das Amtsbuch. In Bayern ist es zunächst das Traditionsbuch, das abschriftlich die vielen ausgestellten Traditionsnotizen für die Zukunft sichert. Dann folgen eigene, d.h. spezialisierte Kopialbücher für die Urkunden der Kaiser und Könige, in der Folgezeit auch anderer Machthaber wie Fürsten, Bischöfe, Grafen usw., denn man unterschied die Traditionsnotizen deutlich von den Privilegien der Herrscher. Ebenfalls noch im 12. Jahrhundert wird die Buch- bzw. Handschriftenform für weitere Rechtsbereiche eingesetzt. Urbarbücher entstehen im Rahmen der Grundherrschaft, um den Besitz an Liegenschaften eines Grundherrn schriftlich und rechtsverbindlich zu fixieren.
3. Spätmittelalter (1250-1500)
Ab der Mitte des 13. Jahrhunderts erfährt die Schriftlichkeit erneut eine deutliche Ausweitung und Verdichtung. Parallel zum Entstehen der Universitäten in Europa dringen Schreiben und Lesen immer weiter vor und erobern sich auch im Verwaltungsleben neue Bereiche. Die Zahl der Urkunden nimmt nochmals stark zu und erreicht im 15. Jahrhundert ihren absoluten Höhepunkt. Neben zahlreichen Kopialbüchern werden auch Auslaufregister angelegt, um die selbst ausgefertigten Urkunden vor der Aushändigung in ihrem Wortlaut zu sichern. Diese bleiben nicht die einzigen Amtsbücher. Es entstehen spezialisierte Typen für das Lehenwesen (Lehenbücher), für das Rechnungswesen (Rechnungsbücher), für die Steuererhebung (Steuerbücher), für die Teilnahme an der Landschaft (Landtafeln). Die Kanzleien als die Verwaltungszentren schaffen sich eigene Hilfsmittel in Form von Formularbüchern (Vorbilder für das Abfassen von Urkunden) und Eidbüchern (Eidesleistungen der landesherrlichen Diener). Auch im Gerichtswesen gewinnt die Schriftlichkeit Raum. Nach den Rechtsspiegeln des 13. Jahrhunderts (Schwabenspiegel u.a.), die das Gewohnheitsrecht abbilden, wird im Oberbayerischen Landrecht Kaiser Ludwigs des Bayern von 1346 zum ersten Mal Landesrecht verbindlich kodifiziert. Es folgen bald Gerichtsprotokolle, welche die Gerichtsverfahren in knappen Protokollen wiedergeben.
Einen Quantensprung stellt die Verwendung von Schreiben (im Sinne des heutigen Schreibens bzw. Briefes) bei den Verwaltungsvorgängen dar. Die Schreiben verbreiten sich im Laufe des 14. Jahrhunderts immer mehr und haben sich ab den 1420er Jahren in Bayern fest etabliert. Sachlich zusammengehörende Schriftstücke werden zu Akten formiert und diese nun auch in die Archive aufgenommen und dort auf Dauer verwahrt. Damit ist mit den Schreiben bzw. Akten in der Typologie der Archivalien neben die Urkunden und Amtsbücher eine dritte Säule getreten, die seitdem alle Verwaltungsvorgänge dominiert.
4. Frühe Neuzeit (1500-1800)
Mit Beginn der Neuzeit schreitet die Verdichtung der Schriftlichkeit weiter voran und zwar sowohl bei den Akten wie bei den Amtsbüchern. Nun kommt immer stärker die Protokollführung auf, insbesondere bei den kollegial organisierten Verwaltungsbehörden; anhand der Protokolle lässt sich die Tätigkeit mancher Behörden Tag für Tag verfolgen. Im Bereich der grundherrschaftlichen Verwaltung werden nun neben den Urbarbüchern die Stift- oder Gültbücher geführt, welche die jährliche Abgabe der Reichnisse der Grundholden an den Grundherrn protokollieren. Die Anlaitbücher notieren die Hofübergaben und die dabei fälligen Gebühren. Auch im Gerichtswesen wird die Palette der Schriftlichkeit breiter und bunter. Es entstehen getrennte Protokollserien für die Strafgerichtsbarkeit und die freiwillige Gerichtsbarkeit, die sich ihrerseits in verschiedene Unterserien aufspaltet (z.B. die Nachlass-Inventare). Der herzogliche Rentmeister führt bei seinen Umritten (= Amtsvisitationen) die Rentmeisterumrittprotokolle. In den Herdstättenverzeichnissen und Scharwerksbüchern wird statistisch-deskriptiv die gesamte Bevölkerung erfasst, ebenso in den Steuerbüchern. Auch die Leibherrschaft wird nun deutlicher sichtbar in den Leibeigenschaftsbüchern und Loskaufprotokollen.
Kurz vor 1500 entdeckt man die Möglichkeit der Zeichnung für Verwaltungsvorgänge. Insbesondere strittige Grenzen werden nun in Zeichnungen visualisiert und zu den Akten genommen. Ebenso gibt man bei Bauvorhaben die Baupläne den Kostenvoranschlägen bei. Ab etwa 1600 ist eine konsequente Aktenführung zur Selbstverständlichkeit geworden. Die Arten der Schriftstücke werden fein differenziert, wobei die Über-, Gleich- oder Unterordnung des Ausstellers gegenüber dem Adressaten eine große Rolle spielt und die Gestaltung des Schriftstücks diktiert.
5. Neuzeit und Neueste Zeit (1800-2000)
Geradezu schlagartig nimmt die Bedeutung des Urkundenwesens ab. Zwar ist die Bevölkerung nach wie vor gezwungen, entscheidende Lebensschritte bei den Gerichtsbehörden in Urkunden festzuhalten (Heiratsvertrag, Erb- und Übergabevertrag usw.), die bei den Land- und Stadtgerichten zu gewaltigen Protokollserien führen (bis 1862). Doch mit der Einführung des jüngeren Notariats 1862 wird das Beurkundungswesen, soweit bestimmte Rechtsvorgänge formpflichtig sind, in den halb privaten Bereich des Notariats verlagert. Urkundenrolle und Notariatsurkunde sind seitdem Konstanten, die das heutige Rechtsleben prägen und zu enormen Urkundenmassen geführt haben. Die Anlage von Amtsbüchern erfährt Modifikationen. Es entstehen neue Arten (am bekanntesten: Steuerkataster, Hypothekenbuch, Grundbuch), die mit einem extrem hohen Maß an Rechtsverbindlichkeit ausgestattet sind. Die Rechtserheblichkeit scheint in der Amtsbuchform am besten gewährleistet gewesen zu sein, denn nach diesem Vorbild werden weitere Amtsbücherserien gebildet: Erbhöferolle (Drittes Reich), Bergbuch, Gefangenenbuch u.v.a.
Auch im Aktenwesen ergeben sich Neuerungen, die zunächst technischer Natur sind. Die Lithographie (auch Autographie genannt) ermöglichte es, Schreiben mechanisch zu vervielfältigen und vor allem Briefköpfe, Tabellen und Formulare zu gestalten. Hierin löste sie den bisher verwendeten Kupferstich ab. Eine große Umwälzung brachte die Erfindung der Schreibmaschine, die um 1900 in allen Verwaltungsstuben Einzug hält. Sie führt zu vielen mittels Kohlepapier erstellten Durchschlägen auf dünnem Durchschlagpapier. In formaler Hinsicht versuchte man die ausufernde Schriftlichkeit und Bürokratie durch Reformmaßnahmen (Stichwort: Büroreform) zu reduzieren, meistens mit nur mäßigem Erfolg. Immerhin wurde die breite Palette von Schriftstückarten, die es im 18. und 19. Jahrhundert gab, allmählich auf die eine Schriftstückform „Schreiben“ reduziert, die seitdem universell verwendet wird.
Eine echte Neuerung bilden die Flurkarte und topographische Karte, die beide auf revolutionäre Erfindungen im Vermessungswesen der Jahre um 1800 zurückgehen. Nun war es zum ersten Mal möglich, Grundstücke wissenschaftlich exakt zu vermessen. Die zur gleichen Zeit erfolgte Erfindung der Lithographie erlaubte einen rationellen Druck in hohen Stückzahlen. Auf dieser neuen Basis entsteht in Bayern ab 1808 die Flurkarte, welche die Grundsteuererhebung auf eine gerechte Grundlage stellen soll, und in den Folgejahren die topographische Karte Bayerns, die militärische Wurzeln hat, bald aber als unentbehrlich für die verschiedensten Verwendungen angesehen wird.
Die in der Mitte des 19. Jahrhunderts erfundene Fotografie bleibt zunächst ohne größere Auswirkung auf die Verwaltungsarbeit der Behörden. Erst die militärische Aufklärung im Ersten Weltkrieg verhilft ihr zu nachhaltigem Einsatz.
Weil die Tätigkeit der Behörden und Gerichte keinesfalls die ganze Bandbreite menschlichen Lebens und Arbeitens erfassen und abbilden kann, gingen die Archive seit der Zeit um 1900 dazu über, in sog. Zeitgeschichtlichen Sammlungen ergänzendes Material zu sammeln. Auf diese Weise entstanden Plakat- und Flugblatt-Sammlungen, Foto- und Filmsammlungen, Zeitungsausschnittsammlungen und Sammlungen von Kleindruckschriften (Pamphlete jeglichen Inhalts, deren Hauptmerkmal es ist, dass sie nicht in Buchhandlungen gekauft werden können, sondern unmittelbar an das Volk verteilt werden). Hier handelt es sich um sehr heterogenes Material, das über den klassischen Kanon behördlichen Schriftguts weit hinausgeht und sich einer strengen Klassifikation oft entzieht. Ebenfalls bevorzugt seit dem 20. Jahrhundert erwerben die Archive die schriftlichen Nachlässe herausragender Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, weil in ihnen oft manches enthalten ist, was die bei den Behörden geführten Akten nicht bieten können (Tagebücher, persönliche Dokumente, Fotos usw.).