Einleitung
(Vorbemerkung zum Gesamtbestand "Landtag" im Findbuch Landtag 1/1)
Vorbemerkung zum Findbuch "Landtag 2: Kammer der Abgeordneten" (gekürzt)
1. Zusammensetzung und Kompetenzen der Kammer der Abgeordneten
Das Parlament zur Zeit der konstitutionellen Monarchie in Bayern, die Ständeversammlung bzw. seit 1848 der Landtag, setzte sich aus zwei selbständigen Kammern zusammen. Neben der Kammer der Reichsräte bestand die Kammer der Abgeordneten. Sie wurde 1819-1831 offiziell bezeichnet als "Zweite Kammer der Ständeversammlung des Königreichs Bayern", 1834-1848 als "Kammer der Abgeordneten des Königreichs Bayern" und 1849-1918 als "Kammer der Abgeordneten des Bayerischen Landtags". Die Abgeordneten wurden jeweils auf sechs Jahre gewählt, wobei sich das Wahlrecht fortschreitend änderte. Zuletzt bestand die Kammer aus 163 Repräsentanten, kontingentiert nach den acht Regierungsbezirken des Königreichs und deren Wahlkreisen.
Die Kompetenzen der beiden Kammern - sie berieten und beschlossen in der nämlichen Sache jeweils selbständig - hatte die Verfassung festgeschrieben: Sie waren mit dem König beschließendes Organ der Gesetzgebung. Die Kammern besaßen die Finanzhoheit, d.h. sie bewilligten die Steuern und kontrollierten den Staatshaushalt sowie die Staatsschulden. Die einzelnen Angehörigen der beiden Gremien konnten Anträge einbringen, die an den König gelangten, wenn beide Kammern ihnen zustimmten. Die Kammern hatten das Recht, Beschwerden von außen wegen Verletzung konstitutioneller Rechte entgegenzunehmen. Die Beschwerden wurden ebenfalls an den König weitergeleitet, wenn die Kammern sie für begründet erachteten. Dagegen konnten sich die Staatsangehörigen mit Eingaben bzw. Petitionen zunächst nicht direkt an die Volksvertretung wenden. Kammermitglieder griffen solche Wünsche jedoch auf und brachten diese "angeeigneten" Anliegen in ihrem Gremium vor. Das Recht zur unmittelbaren Entgegennahme auch von Petitionen wurde von der Kammer der Abgeordneten 1872 durchgesetzt, und erst von da an gab es auch einen offiziellen Petitionsausschuss (bei der Kammer der Reichsräte blieb es beim Erfordernis der "Aneignung").
2. Dokumentationen zur Tätigkeit der Kammer der Abgeordneten
Zwei große Dokumentationen weisen die 100-jährige Tätigkeit speziell der Kammer der Abgeordneten unmittelbar nach:
a) Von allen Verhandlungen im Plenum der Kammer wurden Protokolle aufgenommen und diese Niederschriften ebenso wie die zu einem Verhandlungsgegenstand gehörigen Beilagen gedruckt. Eine vollständige Sammlung dieser gedruckten Unterlagen umfasst 609 Bände, gegliedert nach Sitzungsperioden und jeweils getrennt nach Protokollen und Beilagen. Angeschlossen sind die gedruckten Plenumssitzungsprotokolle des "Provisorischen Nationalrats des Volksstaates Bayern" 1918/19 (Konvent aus Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräten, ehemaligen Landtagsmitgliedern und Vertretern von Gewerkschaften, Verbänden und Vereinigungen in der Übergangszeit nach dem Zusammenbruch der Monarchie; Bd. 610).
b) Über die Bearbeitung der in die Kammer der Abgeordneten eingebrachten Verhandlungsgegenstände (Gesetzentwürfe, Anträge, Beschwerden und Eingaben) entstanden aber auch Akten. Eine Angelegenheit wurde zunächst dem zuständigen Kammer-Ausschuss zur Behandlung zugewiesen. Dieser leitete den Vorgang entsprechend aufbereitet an das Plenum zur Beratung und Beschlussfassung weiter, es sei denn, eine Angelegenheit erwies sich hierzu als ungeeignet. Die Zahl, Art und Bezifferung der Ausschüsse variierte im Verlauf des Bestehens der Kammer. Maßgebend für das System der Aktenablage wurden und blieben die ursprünglich von der Verfassung vorgesehenen Ausschüsse für die Gesetzgebung bzw. für das Justizwesen (I), für die Steuern bzw. das Finanzwesen (II), für die innere Reichsverwaltung (III), für die Staatsschuldentilgung (IV), für die Prüfung der Beschwerden (V) und der eigenen oder "angeeigneten" Anträge der Kammermitglieder bzw. später der Petitionen (VI). Innerhalb dieser Aktengruppen nach Ausschüssen wurde der konkrete Betreff dann einem formal oder inhaltlich umfänglicheren, mit Großbuchstaben gekennzeichneten Sachbereich zugeordnet und schließlich dem zeitlichen Fortgang folgend einzeln spezifiziert. So fixiert z.B. das Aktenzeichen III/ D 80 a einen Akt aus der Zuständigkeit des III. Ausschusses bezüglich des Schulwesens (= Buchstabe D). In den Verbund der Akten sind auch die Protokolle von Ausschusssitzungen integriert, nicht nur die der oben genannten und sonstigen Ausschüsse, sondern auch jener, die zur Beratung aktuell wichtiger Angelegenheiten eigens gebildet wurden ("Besondere Ausschüsse"). Teilweise liegen die Ausschussprotokolle dort in Bandform und als Serien vor, teilweise sind die Protokolle zu den Akten selbst genommen.
Zu einzelnen Ausschüssen ist anzumerken: Der Ausschuss IV (Staatsschuldentilgung) ist 1850 mit dem Ausschuss II (Finanzwesen) zusammengelegt worden. Im Landtagsarchiv wurden seine Unterlagen jenen des II. Ausschusses in der Weise subsumiert, dass die jeweiligen Journale und Protokolle parallel liefen, während man die Einzelbetreffsakten zur Staatsschuld den Akten zum übrigen Finanzwesen beigab. Weil man die Aktenzeichen des ehemaligen IV. jenen des II. Ausschusses anpasste, die Betreffsbildung aber z.T. auf den IV. Ausschuss Bezug nimmt, außerdem der nachfolgende V. Ausschuss (Beschwerden) nach der Zusammenlegung teilweise als IV. Ausschuss gezählt wurde, kann es auf den ersten Blick zu Irritationen kommen. Die Spezialakten des Ausschusses V (= Untersuchung von Beschwerden) sind alphabetisch nach rekurrierenden Personen und Gemeinden aufgebaut. Jeder Buchstabe des Alphabets untergliedert sich dabei in zeitlicher Schichtung in mehrere Akten. Die Repertorisierung des Landtagsarchivs nennt jedoch nur die Namen und sagt nichts über den Gegenstand der Beschwerde. Zur Sachorientierung kann aber die Edition der Beschwerden durch Dirk Götschmann herangezogen werden. Beschwerden wurden auch in anderen Ausschüssen behandelt, wenn sie in Verbindung mit Angelegenheiten standen, die bereits einem Ausschuss zugewiesen waren. Die Unterlagen des späteren Ausschusses VI (Petitionen) wurden in den ersten vier Jahrzehnten der Kammer der Abgeordneten dem V. Ausschuss zugerechnet. Die Akten sind später entsprechend umsigniert worden, auch sprachlich tritt der Petitionsausschuss "rückwirkend" auf. Beachtet werden muss: Bezüglich der Spezialia sind unter dem VI. Ausschuss nur jene Petitionen summarisch abgelegt, die als nicht für die Behandlung im Plenum des Landtags geeignet erschienen. Die dort tatsächlich diskutierten Petitionen finden sich unter den Sachakten des jeweils zuständigen Ausschusses und sind daher in der Regel entsprechend erschlossen.
3. Hinweise zur Benutzung
a) Vor der Arbeit mit den Akten der Kammer der Abgeordneten sollten die Landtagsdrucksachen, d.h. die vervielfältigten stenographischen Plenumsberichte etc. ins Auge gefasst werden. Hierzu ist eine vollständige Bände-Reihe im Bayerischen Hauptstaatsarchiv vorhanden. In den gedruckten Unterlagen kann auch digital recherchiert werden, soweit sie bereits in das Internet gestellt sind.
b) Mit den Repertorien zu den Akten der Kammer der Abgeordneten ist die Recherche erleichtert. Sorgfalt ist in Bezug auf die vorkommenden Namen der Abgeordneten aufgewendet worden.
c) Bei der Sach-Recherche (Stichwortrecherche) sollte im Auge behalten werden, dass die zur Zeit des Bestehens der Kammer benutzten und heute z.T. nicht mehr geläufigen Begrifflichkeiten und Bezeichnungen in den Betreffen erhalten sind. So genügt es (z.B.) nicht, die ehemals bayerische Pfalz nur mit dieser geographisch-politischen Bezeichnung abzufragen. Verwendet wurden für dieses Gebiet auch die ältere Verwaltungsbezeichnung "Rheinkreis" bzw. die Umschreibung "Landesteil jenseits des Rheins" u.ä.. So werden in Bezug auf den damals sehr wichtigen und in der Kammer ausgedehnt behandelten Eisenbahnbau für die Nebenstrecken Begriffe wie "Lokalbahn", "Vizinalbahn", "Sekundärbahn" gebraucht usw. Am Ende vieler Aktengruppen des Teilbestands Kammer der Abgeordneten werden Unterlagen aus der Tätigkeit des "Provisorischen Nationalrats" von 1918/19 vorgetragen.
d) Im vorliegenden Repertorium sind zahlreiche Akten als fehlend deklariert. Von dem vorgetragenen Gesamtbestand von ca. 6900 Akten zur Kammer der Abgeordneten sind mehr als 500 abgängig. Diese Lücken waren schon im Landtagsarchiv vorhanden und sind größtenteils im Altrepertorium festgestellt. In wenigen Fällen sind Unterlagen aus der Zeit der Kammer der Abgeordneten zu jenen aus der Periode des Bayerischen Landtags 1919-1933 gewandert, so etwa Protokollbände des Finanzausschusses der Kammer für die Jahre 1917 und 1918, bestimmte Rechnungsnachweisungen oder die Sitzungen des Ältestenrats bzw. Seniorenkonvents.
4. Quellenwert und Aussagekraft der Akten
Wen die wesentlichen Informationen zur Behandlung eines Gesetzentwurfs, eines Antrags, einer Beschwerde oder einer Petition durch die Kammer der Abgeordneten bzw. den Provisorischen Nationalrat interessieren, der wird sich in den Fällen, in denen sich das Plenum mit den entsprechenden Angelegenheiten befasste, mit der Benutzung der Drucksachen begnügen können. In den anderen Fällen wird auf den Rekurs auf die Akten nicht zu verzichten sein. Die Akten haben gegenüber den Drucksachen weiterhin den formalen Vorteil, dass sie alle Vorgänge zu einer Sachbehandlung durch die Kammer im Zusammenhang bieten. Wichtig und hier zu wiederholen ist, dass unter den Akten auch die Protokolle der mit einer Angelegenheit befassten Ausschüsse der Kammer zu finden sind, teils in der Form selbständiger Reihen, teils im entsprechenden Sachakt. Exakte Forschung wird zu schätzen wissen, dass sich in den Akten die Originale von Anträgen und die Entwürfe von Referentenberichten und Berichten der Ausschüsse an das Plenum befinden. Hinzu kommen gegebenenfalls Eingaben Interessierter von außen.
Abgesehen von der generellen Haushalts- und Gesetzesberatungskompetenz der Volksvertretung drückt sich in den vorgetragenen Unterlagen inhaltlich die gesamte Entwicklung Bayerns seit Erlass der Verfassung von 1818 bis zum frühen 20. Jahrhundert aus. Beispielsweise im Rahmen der Aktengruppe 3.2.2 des III. Ausschusses etwa ist die Entwicklung der Volksvertretung selbst Gegenstand der Aktivitäten der Kammer. In den Aktengruppen 2.10 des II. Ausschusses und 3.7 des III. Ausschusses spiegeln sich im Rahmen des öffentlichen Bauwesens unter anderem die Beschleunigung der Verkehrsentwicklung durch das Aufkommen der Eisenbahn und die Verdichtung ihres Netzes in Bayern, auch das Fahrrad- und Autofahren werden schon zum Thema. Im breiten Feld von "Polizei" und innerer Verwaltung (Aktengruppe 3.6 des III. Ausschusses) dokumentiert sich z.B. die Behandlung des Versicherungswesens einschließlich der Elemente der später so genannten Sozialversicherung mitsamt den Verhältnissen der Arbeiterschaft. In dieser Gruppe schlägt sich auch die Reglementierung bzw. Freiheit von Presse, Vereinen und Versammlungen nieder, soweit die Volksvertretung damit befasst war. In dieser wie auch in allen anderen Aktengruppen der Kammer der Abgeordneten sind die Verhältnisse in der Pfalz immer mit im Spiel. Dies bedarf umso deutlicher der Erinnerung, als das Wissen darum verblasst, dass die Pfalz im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Teil des bayerischen Staatsgebiets war.
Juli 2007
Renate Herget, Stefan Thiery
Inventare/Datenbanken:
1. Bayerische Archivinventare mit vollständiger Fassung des Vorworts:
Renate Herget und Stefan Thiery (Bearb.), Bayerisches Hauptstaatsarchiv. Bayerischer Landtag. I. Ausschuss: Justizwesen, II. Ausschuss: Finanzwesen (Bayerisches Archivinventar 59/2), München 2011
Renate Herget und Stefan Thiery (Bearb.), Bayerisches Hauptstaatsarchiv. Bayerischer Landtag. Kammer der Abgeordneten: III. Ausschuss: Staatsorganisation, Innere Angelegenheiten, Militär und Äußere Beziehungen, V. Ausschuss: Beschwerden, VI. Ausschuss: Petitionen. Verfassungsurkungen; Eröffnung, Abschied und Schließung von Ständeversammlung bzw. Landtag (Bayerisches Archivinventar 59/3), München 2021
2. Dirk Götschmann (Bearb.), Die Beschwerden an die Kammer der Abgeordneten des Bayerischen Landtags 1819-1918, München 1997.
Aufbauend auf dieses Inventar wurden die Beschwerden und Petitionen im Jahr 2010 vom Bayerischen Landtag in zwei Datenbanken online zugänglich gemacht:
<https://www.bayern.landtag.de/parlament/parlamentsgeschichte/beschwerden-an-die-kammer-der-abgeordneten/> (aufgerufen am 29.6.2022)
<https://www.bayern.landtag.de/parlament/parlamentsgeschichte/petitionen-1872-bis-1918/> (aufgerufen am 29.6.2022)