Einleitung
[Hinweis: Das unten stehende Vorwort stellt eine stark gekürzte Fassung des Vorworts zum analogen Findbuch dar.]
Das Bayerische Hauptstaatsarchiv verwahrt heute 262 Urkunden von ursprünglich geschätzten 7000 Urkunden des domkapitlischen Urkundenarchivs, des sogenannten „großen Archivsˮ des Domkapitels. Die älteste im Hauptsaatsarchiv verwahrte Urkunde des Domkapitels stammt aus den Jahren 1167/1170(1).
Reichsarchivrat Dr. Ivo Striedinger, der sich ab 1909 intensiv mit dem Verbleib des gesamten domkapitlischen Archivs beschäftigt hatte, schätzte Anfang des 20. Jahrhunderts anhand der bekannten sachthematischen Einteilung in 84 Urkundenkästen, sogenannten Lafften(2), und einer vorhandenen Teilübersicht die ursprüngliche Gesamtzahl der Urkunden auf etwa 7000 Stück(3). Was ist im Laufe der Zeiten aus dem großen Urkundenarchiv geworden?
Im Zuge der Säkularisation war 1803 zwar das Hochstift Regensburg aufgelöst worden und im neu geschaffenen Fürstentum Regensburg von Fürstprimas Karl Theodor von Dalberg aufgegangen, dieser hatte aber das Regensburger Domkapitel im Genuss seiner Einnahmen aus Gütern, Gülten, Zehnten und sonstigen Gefällen und bei seinen althergebrachten Rechten belassen(4). Es gibt drei Gründe, warum das zügige Aussondern des vorhandenen Schriftguts und die Sicherung der Urkunden, Amtsbücher und Akten trotz Drängen des zuständigen Reichsarchivs zu Beginn des 19. Jahrhunderts unterblieben und das Archiv des alten Domkapitels heute nur noch zu einem Bruchteil überliefert ist: Zum einen wurde das alte Kathedralkapitel auf der Grundlage der Zirkumskriptionsbulle Provida solersque 1821 neu installiert und konnte in Kontinuität fortbestehen, zum anderen wurde die Neudotation, also die Neuausstattung mit Realien, gem. Artikel IV des Bayerischen Konkordats von 1817 nur zögerlich umgesetzt und zum dritten verweigerte das Kapitel anfangs hartnäckig eine Urkunden- und Aktenaussonderung.
Da Anfang der 1820er Jahre keine Aktenaussonderung zustande kam, stellte das Kgl. Staatsministerium des Äußeren in einer Entschließung vom 4. Dezember 1823 das gemeinsame Eigentum am Archiv zwischen Staat und Domkapitel fest und legte mit Zustimmung des Domkapitels das Archiv unter eine Doppelsperre − zur Wahrung der Ansprüche des Staates und des Domkapitels. Sowohl die Regierung des Regenkreises als auch das Domkapitel erhielten einen Schlüssel für den Zugang zum sog. „gemeinsamen Archiv”, das auch das Urkundenarchiv umfasste, und im oberen Stock der Domsakristei untergebracht war. Verschiedene Umzüge und Verlagerungen einzelner Archivteile, auch des unter „doppeltem Verschlussˮ liegenden Archivs, taten in den folgenden Jahren und Jahrzehnten ihr Übriges, Ordnungsstrukturen aufzulösen, konnten aber nicht verantwortlich für das fast vollständige Verschwinden des Urkundenarchivs sein.
Striedinger kann in einer konzisen Beweisführung darlegen(5), dass das Domkapitel, ohne davon gewusst zu haben, seines großen Urkundenarchivs beraubt worden sein muss. Als frühester Tatzeitpunkt ist ein Zeitpunkt nach der ersten Transferierung des gemeinsamen Archivs im Jahr 1836 anzunehmen. 1863 tauchten die ersten Urkunden im Handel auf, wurden vom Germanischen Nationalmuseum, dem Historischen Verein für Oberpfalz und Regensburg und auch vom Reichsarchiv erworben. Da die Urkunden vermutlich schnell zu Geld gemacht werden sollten, ist mit Striedinger ein Zeitpunkt des Diebstahls kurz davor anzunehmen. Und tatsächlich fanden Anfang der 1860er Jahre Bauarbeiten am Dom statt, die einen unauffälligen Einbruch in das Kapitelhaus möglich gemacht haben könnten, so dass „von rückwärts, vom Bischofshofe aus, eine Leiter an das Kapitelhaus angesetzt und in dessen 'feuerfestes Gewölbe' von Norden her eingestiegen wurdeˮ(6).
Eine Besonderheit an den erhaltenen 262 Urkunden ist auffällig: Es fehlen an fast allen Urkunden die Siegel. Eine Ausnahme bilden unter anderem vier Kaiser- bzw. Königsurkunden(7), die dem Reichsarchiv in den Jahren 1828/29 für Forschungsarbeiten im Rahmen der Monumenta Boica leihweise überlassen und versehentlich nicht nach Regensburg zurückgegeben worden waren, und eine weitere von 1318(8). Diese Verstümmelung der Urkunden fand offenbar ganz gezielt statt, denn auf dem Schwarzmarkt oder über Antiquariate fanden Siegel damals leicht einen Käufer. Einen Markt für Siegelsammler gab es mit Sicherheit, wie es die Sammelleidenschaft des Verfassers des Codex Chronologico-Diplomaticus Episcopatus Ratisbonensis(9) beweist: Thomas Ried, Theologe, Pfarrer, seit 1817 korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und zuletzt selbst Kanoniker des neuen Domkapitels, hatte mit einem Teil der Original-Urkunden gearbeitet und eine Auswahl 1816 in seinem Codex publiziert. Im Nachlass des 1827 Verstorbenen befanden sich nicht nur Urkunden des Domkapitels sämtlich ohne anhängende Siegel, sondern auch die dazugehörigen abgeschnittenen Siegel(10).
Wer heute mit dem Urkundenbestand arbeitet, dem stehen im Bayerischen Hauptstaatsarchiv neben dem vorliegenden Repertorium zwei weitere Hilfsmittel zur Verfügung: Pater Roman Zirngibl (gest. 1816), unter Fürstprimas Karl Theodor von Dalberg ab 1804 zuständiger Archivar für die säkularisierten Klöster und Stifte in Regensburg, hatte unter anderem die Gelegenheit, das geordnete und noch vollständige Urkundenarchiv des Domkapitels zu benützen und zu sichten. Er stellte seiner eigenen Zählung nach an die 431 Urkundenabschriften von den aus seiner Sicht wichtigsten Urkunden bis zum Ende des 14. Jahrhunderts her, kennzeichnete jede Abschrift mit dem Vermerk „Ex archivio capituli cathedralis Ratisponensisˮ und notierte den umseitigen typischen Registraturvermerk der Urkunden: Lafften-Nummer und Nummer der Urkunde innerhalb dieser Lafften. An die 357 Abschriften von den 431 sind erhalten: Aufgrund der disparaten Überlieferungslage stellen die Urkundenabschriften Zirngibls eine wichtige Quelle für die Forschung dar(11). Als weiteres Hilfsmittel bei der Arbeit mit den Urkunden ist die Aussteller- und Sieglerliste der heute im Hauptstaatsarchiv verwahrten Urkunden bis 1400(12) zu nennen. Wie das vorliegende Findbuch weist sie nach, ob und in welchem Band (mit Seitenangabe) die Urkunde von Thomas Ried im Codex Chronologico-Diplomaticus Episcopatus Ratisbonensis publiziert wurde und ebenso, ob eine Urkunde von den Bearbeitern der Monumenta Boica oder der Regesta Boica erfasst worden ist.
Ein erstes Verzeichnis der Urkunden stammt aus dem 15. Jahrhundert. Durch alte Repertorien des Domkapitels aus dem 16. und 17. Jahrhundert, die im Bischöflichen Zentralarchiv Regensburg verwahrt werden(13), ist uns die sachthematische Einteilung und Ordnung des Urkundenarchivs bekannt. Das Registraturbuch des Domkapitels aus dem Jahr 1642(14), das Nachtragungen bis in die 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts enthält, beschreibt genau die Ordnung der Urkundenregistratur in 84 Urkundenkästen bzw. -laden (Lafften). Ein 57 Jahre früher im Jahr 1585 angelegtes Repertorium beschreibt nur 83 Lafften. Ihm ist immerhin zu entnehmen, dass das Urkundenarchiv zu diesem Zeitpunkt 4754 Urkunden umfasste(15). Die Lafften-Gliederung ist dem ausführlichen Vorwort des analogen Findbuchs zu entnehmen bzw. der oben genannten Aussteller- und Sieglerliste beigegeben.
Hinweis für die Forscherinnen und Forscher:
Aufgrund der bewegten Geschichte des domkapitlischen Archivs werden heute seine Urkunden, Akten und Amtsbücher an verschiedenen Orten verwahrt. Betrachtet man nur die Urkunden, so hat neben dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv mit 262 Urkunden das Bischöfliche Zentralarchiv Regensburg die meisten Urkunden aufzuweisen: 1378 Urkunden beginnend mit dem 13. Jahrhundert werden in drei Serien verwahrt, und zwar 342 Urkunden des alten Domkapitels in der Urkundenserie des Alten Domkapitel‘schen Archivs (ADK, Laufzeit: 30.3.1234 – 11.9.1822), 895 Urkunden in der Serie des Bischöflichen Domkapitel‘schen Archivs (BDK mit Urkunden der Provenienz „Regensburger St. Wolfgangsbruderschaftenˮ; Laufzeit: 1228 – 13.1.1863) und eine Serie, die den Ankauf von 141 Urkunden aus dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg im Jahr 1977 (BDK GN) umfasst(16). Für das ADK beansprucht der Staat eine Miteigentümerschaft − Konsequenz und Ergebnis der nie durchgeführten Aufteilung des domkapitlischen Schriftguts zwischen Staat und Domkapitel nach der Säkularisation und nach dem Übergang des Fürstentums Regensburg an das Königreich Bayern im Jahr 1810. Weitere Urkunden befinden sich beim Historischen Verein für Oberpfalz und Regenburg(17) und nach wie vor im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg(18).
Was die übrigen Unterlagen des Domkapitels anbelangt hat man in den 1930er und 1940er Jahren eine Eigentumsabgrenzung zwischen Staat und Domkapitel vorgenommen: „Episcopalia, Spiritualia und Personalia” sollten letzterem zufallen und finden sich heute im Bestand BDK des Bischöflichen Zentralarchivs wieder. Für die Archivalien des ADK, die sich durch einen rein historischen Wert auszeichnen und an denen Staat und Domkapitel ein Miteigentum besitzen, ist erst im Jahr 1971 zwischen dem Freistaat Bayern und dem Domkapitel Regensburg vertraglich festgelegt worden, dass sie vom neu geschaffenen und in den Räumen des säkularisierten Damenstiftes Obermünster eingerichteten Bischöflichen Zentralarchiv verwaltet werden sollen(19). Die Akten und Amtsbücher des Domkapitels, die sich heute im Bayerischen Hauptstaatsarchiv befinden, sind zum überwiegenden Teil im 19. Jahrhundert zum Dienstgebrauch von den damaligen Behörden einbehalten worden und im letzten Jahrhundert über den Weg der regulären Aktenaussonderung, also der Behördenabgaben, an die staatlichen Archive gelangt(20).
München, Dezember 2017
Dr. Susanne Wolf, Archivoberrätin