Einleitung
Einsetzung des Generalstaatskommissars
Zum „Schutze und zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ bestellte das bayerische Gesamtstaatsministerium am 26. September 1923 Dr. Gustav Ritter von Kahr,[1] Regierungspräsident von Oberbayern, auf Grund von Art. 48 Abs. 4 der Verfassung des Deutschen Reiches und § 64 der Bayerischen Verfassung zum Generalstaatskommissar. Damit wurden Grundrechte wie die persönliche Freiheit, das Recht der freien Meinungsäußerung und die Pressefreiheit, das Vereins- und Versammlungsrecht sowie das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis eingeschränkt; Einschränkungen des Eigentums und die Anordnung von Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmen mussten in bestimmten Grenzen hingenommen werden. Die vollziehende Gewalt ging auf den Generalstaatskommissar über und sämtliche Behörden – nicht aber die Gerichte, Verwaltungsgerichte und Militärbehörden – wurden angewiesen, seinen Anordnungen Folge zu leisten. Auch konnte der Generalstaatskommissar an Stelle der Behörden Amtshandlungen vornehmen und die Hilfe des Militärs anfordern. Seine Anordnungen gingen denen der Behörden vor; Rechtsmittel gegen Anordnungen des Generalstaatskommissars waren grundsätzlich nicht vorgesehen. Seine Hauptaufgabe sah das Gesamtministerium darin, Anordnungen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu erlassen und deren Übertretung zu ahnden. Dazu gehörte explizit auch die Anordnung von Schutzhaft und die Verhängung von Aufenthaltsbeschränkungen.[2] Begleitet wurde die Bestellung von einem „Aufruf der bayerischen Staatsregierung. An das bayerische Volk“, der die Einsetzung von Kahrs als Reaktion auf die Politik der Reichsregierung gegenüber der Besetzung von Gebieten an Rhein und Ruhr durch Frankreich darstellte.[3]
Behördengeschichte und innerer Aufbau
Die Behörde des Generalstaatskommissars[4] war im Gebäude der Regierung von Oberbayern, Maximilianstraße 14 in München, im ersten Stock angesiedelt. Bereits im Dezember 1923 musste das Landesfinanzamt München dort weitere Zimmer räumen, um dem gestiegenen Platzbedarf insbes. der Wirtschaftsabteilung nachkommen zu können.[5]
Das Generalstaatskommissariat gliederte sich wie folgt:[6]
Generalstaatskommissar:
Exz. Dr. v. Kahr[7]
Vertreter:
ORR Baron Aufseß[8]
Politische Abteilung (Pol.):
ORR Frhr. v. Aufseß, RR Frhr. v. Freyberg[9]
Wehrtechnische Abteilung (A):
Pol.-Oberst v. Seißer,[10] Pol.-Major Hunglinger[11]
Presse-Abteilung (Pr.):
Hauptschriftleiter Schied(t)[12 ]
Kasse (K):
Herr Kammel (Landespolizeiamt Galeriestraße 12)
Offizier vom Dienst (Auskünfte, Anmeldungen zu Oberst v. Seißer):
ohne Name
Wirtschaftliche Abteilung (Wi):
Oberst a.D. Hörnle[13], Geheimrat Dr. Frank, Oberstleutnant Forster[14], RR Dr. Henselt[15]
ab Dezember 1923: Oberstleutnant Forster, Geheimrat Dr. Frank, Regierungsrat Dr. Henselt, Rechtsrat Dr. Kleindinst[16]
Nachrichtenabteilung (N):
Pol.-Major Doehla[17], Pol.-Hauptmann Hörmann[18]
Rechtsabteilung (R):
ORR Schuler[19]
Vertreter der Staatsregierung:
ORR Stauffer[20]
Registratur:
Registrator Dieng
Die auf den einzelnen Dokumenten zumeist mit dickerem Farbstift (blau, rot) angebrachten Ausweisungen beziehen sich auf diese Abteilungen.
Die Einrichtung des Generalstaatskommissariats beschreibt v. Kahr in seinen Lebenserinnerungen, die als Typoskript mit handschriftlichen Korrekturen v. Kahrs in der Abteilung V des Bayerischen Hauptstaatsarchivs verwahrt werden.[21] Demnach bildeten die Herren v. Aufseß, v. Freyberg, v. Seißer, Hunglinger, Schied, Doehla, Hörmann, Forster, Stauffer und Schuler seinen „Stab“. Dieser traf sich täglich, um die wichtigsten Angelegenheiten vorzuberaten, ehe man sie v. Kahr vortrug.[22]
Nach den Verwicklungen v. Kahrs und vieler seiner Mitarbeiter im Generalstaatskommissariat in die Ereignisse um den Hitlerputsch und angesichts des bevorstehenden Gerichtsverfahrens war er als Generalstaatskommissar nicht mehr haltbar. Auf Druck der Staatsregierung resignierte v. Kahr als Generalstaatskommissar mit Schreiben vom 17. Februar 1924 an Staatsminister Matt als Vertreter des Ministerpräsidenten.[23] Damit fiel er in seine alte Stellung als Präsident der Regierung von Oberbayern zurück – ohne aber das Amt faktisch auszuüben –, bevor er schließlich zum Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofs befördert wurde. Dieses Amt bekleidete er, bis er zum 01. Januar 1931 in den Ruhestand versetzt wurde.
Zuständigkeit
Der Generalstaatskommissar residierte zwar in den Räumlichkeiten der Regierung von Oberbayern, verfügte aber über eine eigene Registratur, eine eigene Kanzlei, die den Posteingang (eigener Posteingangsstempel) und Versand (Briefpapier mit Behördenkopf des Generalstaatskommissars) besorgte, sowie einen festen Referenten- und Mitarbeiterstamm – beim ersten 1920 nur kurze Zeit amtierenden Generalstaatskommissar Theodor Ritter von Winterstein[24] war dies noch nicht der Fall. Der Grad an Institutionalisierung war damit ungleich höher. Der personale Charakter des Generalstaatskommissariats zeigt sich jedoch in der fehlenden Zuweisung eines Etats: So verfügte es über kein eigenständiges Budget, sondern blieb haushaltsrechtlich vom Ministerpräsidenten und dem Gesamtministerium abhängig. Für Sonderprojekte war v. Kahr auf die Zuweisung von Geldern durch Ministerpräsident v. Knilling angewiesen.[25] Die wenigen Hinweise im Bestand legen ferner nahe, dass der laufende Finanzbedarf des Generalstaatskommissars über die Regierung von Oberbayern und das Landespolizeiamt gedeckt wurde, wobei die Mittel im Nachhinein vom Innenministerium freigegeben wurden.[26]
Die Verordnung vom 26. September 1923 stattete den Generalstaatskommissar mit umfangreichen Kompetenzen aus, die sich vornehmlich auf die innere Ordnung Bayerns und die wirtschaftlichen Verhältnisse bezogen. Diese beiden Politikfelder bilden eindeutig den Schwerpunkt des Bestandes. Dabei bediente sich der Generalstaatskommissar des Mittels normativer Setzungen (Verordnungen, Anordnungen, Bekanntmachungen), ordnungspolitischer und polizeilicher Maßnahmen, um deren Durchsetzung zu gewährleisten, sowie flankierender propagandistischer Aktivitäten.[27] Ferner zeigt das Rudiment eines Aktenplans und die erhaltene Überlieferung, dass v. Kahr das Generalstaatskommissariat auch zu einer Informationszentrale machen wollte: Gesammelt wurden einschlägige Berichte der Tagespresse, Berichte, die auf administrativem Wege zustande kamen (Berichte der Regierungspräsidenten, Berichte von Polizeidienststellen, amtliche Statistik), nachrichtendienstliche Erkenntnisse und nicht zuletzt Informationen, die aus inoffiziellen Quellen stammten oder über private Kanäle flossen. Demgegenüber klammert die Verordnung die Beziehung des Generalstaatskommissars zum Reich und zur Reichswehr aus. Hier blieben formal Ministerpräsident v. Knilling bzw. das Gesamtministerium zuständig; der Niederschlag in den Akten des Generalstaatskommissars beschränkt sich demnach auf Themen, die indirekt mit dem Reich verschränkt waren (v.a. der Bereich Steuer und Währung), sowie inoffizielle Kontakte.
Ein weiteres Charakteristikum des Bestandes ist das hohe Aufkommen an Zuschriften:[28] Vereine, Verbände, vor allem aber Privatpersonen teilten dem Generalstaatskommissar ihre Anliegen mit, beschwerten sich über Missstände, baten um persönliche Unterstützung, boten ihre Hilfe an oder bekundeten ihre Solidarität – oder Ablehnung. Auf diese Weise gelangten bisweilen sehr umfangreiche Exposés und Gutachten zu allen möglichen Fragestellungen und Lebensbereichen in den Bestand; daneben finden sich intensive Schilderungen der persönlichen Lebensverhältnisse, die für die Sozial- und Mentalitätsgeschichte der frühen Weimarer Republik von großem Wert sein dürften.
Aktenordnung
Die im Generalstaatskommissariat bestehende Aktenordnung, wie sie sich aus den Aktenzeichen rekonstruieren lässt, unterscheidet Akten der Abteilungen von Einzelsachakten. Erstere tragen als Registraturzeichen den Abteilungsnamen (Generalstaatskommissar 1–9) und sind fadengeheftet, letztere sind mit einer einfachen arabischen Ziffer von 1 bis 35 durchnummeriert und grob alphabetisch nach Betreff geordnet; eine Fadenheftung oder anderweitige Bindung fehlt meist. Durch Hinzufügen eines Kleinbuchstabens konnte eine weitere Unterteilung vorgenommen werden. Die Akten tragen kurze Betreffe, die einheitlich auf den Aktendeckeln angebracht und fest mit dem Registraturzeichen verbunden sind. Da diese Aktentitel in der Forschung eingeführt sind, wurden sie in der Neuerschließung hinter dem Betreff in Klammern als „Aktentitel:“ mitaufgenommen.
Die Aktenführung selbst war wenig konsequent und erweckt oft einen improvisierten Eindruck. Dies mag auch an der unzureichenden Aktenordnung liegen. Die Betreffsbildung erfolgte auf unterschiedlichen logischen Ebenen und manche Betreffe waren nichtssagend (Generalstaatskommissar 75: „Was erwartet man sich!“). Das führte regelmäßig dazu, dass Schriftgut zu einem Geschäftsvorgang in unterschiedlichen Akten abgelegt wurde. Der Schriftverkehr zu manchen Themen wurde so, ohne dass es einen sachlichen Grund gegeben hätte, auf mehrere Akten verteilt. Beispielsweise finden sich Unterlagen zum relativ scharf umrissenen Betreff der Arbeitsmaßnahmen am Walchenseekraftwerk an drei Stellen.[29]
Die Neugliederung des Bestandes im Zuge der Feinerschließung ist der Versuch, anhand des tatsächlichen Akteninhalts thematisch zusammengehörige Akten unter einem inhaltlich verbindenden Gliederungspunkt zusammenzuführen. Die ursprünglichen Signaturen bleiben, da sie in der Forschung etabliert sind, erhalten; dafür müssen nun jedoch Springnummern in Kauf genommen werden.
Benützungshinweise
Aus den Hinweisen zur Zuständigkeit und zur Aktenführung ergeben sich für die Benützung des Bestandes zwei wichtige Konsequenzen:
1. Innerhalb des Bestandes ist möglichst breit zu recherchieren. Zwar werden in der Erschließung, v.a. über den Enthält/Darin-Vermerk, die wesentlichen Akteninhalte wiedergegeben. Jedoch war es – zumal bei den umfangreicheren Akten – nicht möglich, die Betreffe sämtlicher Schriftstücke innerhalb eines Aktes aufzuführen. Eine Orientierung mag die neue Gliederung des Bestandes bieten.
2. Das Generalstaatskommissariat war keine Behörde mit exklusiver Zuständigkeit. Um den Niederschlag eines Themas in der staatlichen Überlieferung vollumfänglich zu erfassen, ist daher immer auch die Überlieferung des Gesamtministeriums (MA 35/1: Ministerratsprotokolle und MA 35/2: Gesamtstaatsministerium) sowie der Fachressorts heranzuziehen.
Bestandsgeschichte
Nach der Abwicklung des Generalstaatskommissariats blieb die oben geschilderte Aktenordnung bis auf zwei Änderungen, die allem Anschein nach im Innenministerium vorgenommen worden sind, erhalten: Zum einen entnahm man dem Akt Generalstaatskommissar 89 (Aktentitel: „Ausweisungen“) die noch „aktiven“ Ausweisungen und legte sie zu den Akten des Innenministeriums.[30] Zum anderen wurden die Korrespondenzen und Berichte über deutschnational-völkische Gruppen und Parteien separat gelegt (Generalstaatskommissar 92–102). Folgt man den z.A.-Vermerken auf den Unterlagen, wies die Registratur des Generalstaatskommissariats diese zunächst dem Aktenzeichen 16 zu.[31] Später wurden sie nach den einzelnen Parteien und Verbänden getrennt. Nachdem die neuformierten Vorgänge Aktendeckel des Innenministeriums tragen, ist davon auszugehen, dass dort die Aufteilung erfolgt ist.
Auffällig ist, dass innerhalb der aufsteigenden Ziffernfolge des Aktenzeichens von 1 bis 35 die Nummern 28, 29 und 33 fehlen. Ob dies auf Kassationen im Generalstaatskommissariat oder im Innenministerium zurückzuführen ist, lässt sich aus den zur Verfügung stehenden Quellen nicht beantworten.[32] Fest steht, dass die Unterlagen des Generalstaatskommissars 1942 vom Innenministerium, zusammen mit einem Akt des Generalstaatskommissars von 1920, Theodor Ritter von Winterstein,[33] sowie den Akten des Arbeiter- und Soldatenrats an das Allgemeine Staatsarchiv, der sogenannten Stammabteilung des Bayerischen Hauptstaatsarchivs, abgegeben worden sind. Ein Zusammenhang mit kriegsbedingten Flüchtungen ist wahrscheinlich, lässt sich aber aus den erhaltenen Unterlagen nicht nachweisen. Beim Übergang vom Innenministerium an das Allgemeine Staatsarchiv wurden die auch heute noch erhaltenen 103 Akten übergeben – archivische Kassationen können damit ausgeschlossen werden.[34] Um das Jahr 1953 erörterte die Archivverwaltung noch die Frage, ob die Akten des Generalstaatskommissars nicht besser an das Geheime Staatsarchiv abgegeben werden sollten. Die Zuordnung zum Allgemeinen Staatsarchiv blieb mit dem Argument bestehen, dass die Registratur des Generalstaatskommissars eine Mischung von Akten verschiedenster Ressorts darstelle, für die das Allgemeine Staatsarchiv zuständig sei.[35]
Im Allgemeinen Staatsarchiv waren die Akten ab 1956 benutzbar.[36] 1957 waren die Verzeichnungsarbeiten definitiv abgeschlossen: Im Bestände- und Repertorienverzeichnis des Hauptstaatsarchivs, Abt. I, bearbeitet von AR Dr. Alois Weißthanner, S. 169, erscheint der Bestand Generalstaatskommissar mit der Repertoriennummer J 1. Unter dieser Nummer war er zusammen mit dem Arbeiter- und Soldatenrat in Zugang genommen worden. Die Erschließung im Allgemeinen Staatsarchiv beschränkte sich darauf, die originalen Aktentitel wiederzugeben und sie in der vorgefundenen Reihenfolge zu belassen. Bei der Bestandsbildung wurde der eine Akt des Generalstaatskommissars Winterstein mit der Überlieferung des Generalstaatskommissars Kahr zusammengenommen und über die Gliederung getrennt. Die Gliederung bildete die ursprüngliche Aktenordnung ab:
1. Generalakten der Abteilungen (Generalstaatskommissar 1–10)
2. Einzelne Sachakten (Generalstaatskommissar 11–91)
3. Parteien und Verbände (Generalstaatskommissar 92–102)
4. Akten des Staatskommissars (sic!) von 1920 (Generalstaatskommissar 103)
Im November 1974 erfolgte die Verfilmung der Akten im Rahmen der Bundessicherungsverfilmung (Filmnummer 9605 bis 6910) – wiederum zusammen mit denen des Arbeiter- und Soldatenrats. In diesem Rahmen dürfte auch die durchgehende Paginierung erfolgt sein, die sich konsequent an der vorgefundenen Ordnung der einzelnen Schriftstücke orientierte. Im Zuge der Neuverzeichnung wurden hierin behutsame Korrekturen vorgenommen und die Blätter eines Schriftstücks in die richtige Lesereihenfolge gebracht sowie – sofern noch rekonstruierbar – Beilagen zum Bezugsschriftstück gelegt.
gez. Dr. Andreas Schmidt
Archivrat
München, 2. Oktober 2023
Die Anmerkungen zum Vorwort können aus technischen Gründen nicht wiedergegeben werden. Sie können im gedruckten Findmittel eingesehen werden.