13.07.2021: Fundstück aus dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv

Inkunabel in der Amtsbibliothek des Bayerischen Hauptstaatsarchivs (wieder)entdeckt.

Abb. 1: Außenansicht der Inkunabel nach der Restaurierung, Foto: Tanja Augustin (†), BayHStA.

Abb. 2: Titelseite der Inkunabel mit kolorierter Initiale, Foto: Tanja Augustin (†), BayHStA.

Abb. 3: Prägestempel des Vorbesitzers auf dem Kopfschnitt: Vogel Strauß und Rehhuf, Foto: Tanja Augustin (†), BayHStA.

Abb. 4: Gewebemuster in der Textur, Foto: Nadine Bretz, restart.

Immer wieder machen Archive, Museen und Bibliotheken spannende Entdeckungen in ihren eigenen Beständen. Zuletzt beispielsweise das Stadt- und Stiftsarchiv Aschaffenburg, das im Sommer 2020 bei einem Digitalisierungsprojekt eine jahrzehntelang verschollene Urkunde Kaiser Ottos II. aus dem Jahr 982 wiederentdeckte. Man fragt sich stets, wie es sein kann, dass derart Einzelstücke im eigenen Haus einfach verschwinden konnte. Die Antwort war hier – wie in den meisten derartigen Fällen – denkbar einfach: Das Stück wurde irgendwann einmal an der falschen Stelle eingestellt. Meist hilft in diesen Fällen nur noch ein glücklicher Zufall oder Magazinpersonal, das in der Kunst des Findens geübt ist, um wieder darauf zu stoßen.

Ein ähnlicher Fall hat sich nun auch im Bayerischen Hauptstaatsarchiv ereignet. Im Rahmen einer umfassenden Revision ihres Magazinbereichs stieß die Restaurierungswerkstatt auf einen schwer beschädigten Band aus der Amtsbibliothek, dem ein Auftragsschein aus dem Jahr 1981 beilag. Aufgrund vordringlicherer konservatorischer Arbeiten an Archivalien war seine Restaurierung offenbar immer wieder zurückgestellt worden, so dass das Buch über die Jahrzehnte und mehrere Generationswechsel hinweg sowohl dem Bibliotheks- als auch dem Restaurierungspersonal schlichtweg aus dem Blickfeld geraten war. Kurioserweise war auch im Bibliothekskatalog kein Hinweis auf das Buch zu finden, so dass es nicht einmal vermisst wurde.

Bei genauerem Hinsehen ließ sich rasch ermitteln, dass es sich bei dem stattlichen Band um das gedruckte Repertorium utriusque iuris des italienischen Rechtsgelehrten Johannes Calderinus († 1365) handelt – einen im Spätmittelalter relativ weit verbreiteten juristischen Kodex –, und somit um eine Inkunabel! Als Inkunabeln oder Wiegendrucke werden Bücher und Einzeldrucke aus der Frühzeit des Buchdrucks bis zum Jahr 1500 bezeichnet. Wie sich über den Gesamtkatalog der Wiegendrucke (www.gesamtkatalogderwiegendrucke.de) und durch den Vergleich mit dort verlinkten Digitalisaten anderer Exemplare leicht feststellen ließ, ist das im Bayerischen Hauptstaatsarchiv wieder aufgetauchte Buch im Jahr 1474 in Basel gedruckt worden und in 91 (bzw. nun 92) Exemplaren in öffentlichen Einrichtungen weltweit überliefert.

Das Handbuch der Historischen Buchbestände in Deutschland (1996) weist für die Amtsbibliothek des Bayerischen Hauptstaatsarchiv lediglich zwei Inkunabeln aus: Die Reformation der Stadt Nürnberg von 1479 (Nürnberg: Anton Koberger 1484) und die Historiarum Romani Imperii decades III des Flavius Blondus (Venedig: Octavianus Scotus 1483). Bei der damaligen systematischen Erfassung und Beschreibung des Bibliotheksbestands war die nun wieder aufgefundene Inkunabel nicht mehr an ihrem Fach gewesen, da sie bereits seit über zehn Jahren zur Restaurierung bereit lag. Dass das Bayerische Hauptstaatsarchiv nun nicht nur eine dritte Inkunabel, sondern zugleich das älteste Druckwerk in seinem Bibliotheksbestand wieder aufgefunden hat, ist eine mehr als erfreuliche Nachricht.

Der 39 cm hohe, 28,5 cm breite und 16 cm starke Band wies vor allem an Buchdeckeln und Einband teils erhebliche Schäden auf. Der Rückendeckel ist in der Mitte gebrochen und nur noch zur Hälfte vorhanden, weswegen sich der hintere Teil des Buchblocks gewellt und die Seiten an den Ecken eingerollt hatten. Die Buchverbindungen zum Deckel und die Heftung im hinteren Buchblock waren weitgehend gerissen, das insgesamt stark verhornte Einbandleder war über dem Rücken teilweise brüchig. Neben der Verunreinigung vor allem des Buchschnitts waren stellenweise alte Feuchtigkeitsschäden festzustellen. Im Inneren erwies sich der Buchblock aber als ausgesprochen sauber und sehr gut erhalten.

Die lange Wartezeit auf eine Restaurierung erwies sich als Glücksfall für das wertvolle Stück, ist es doch dadurch einem konservatorischen Maßnahmenpaket entgangen, das von der heutigen Restaurierungsethik – Vermeidung von Eingriffen in die Originalsubstanz, Kenntlichmachung ergänzter Stellen usw. – noch weit entfernt war. So war 1981 etwa vorgesehen, den Band komplett auseinander zu nehmen und neu zu heften, die Buchdeckel mit auf alt getrimmtem Holz zu ergänzen und die fehlenden Schließen zu ersetzen.

Stattdessen wurde die Inkunabel nun behutsam und umfassend nach den heutigen Standards restauriert. Einband und Buchblock wurden gereinigt, die verformten Ecken wieder ausgelegt, gerissene Fälze gesichert, gelöste Heftungen erneuert, die Bünde stabilisiert. Anstatt das fehlende Holzteil des Rückendeckels zu ergänzen, wurde ein Schutzumschlag mit einer passgenauen Einlage angefertigt, die das fehlende Teil ausgleicht. So musste zum einen die Originalsubstanz nicht angetastet werden, zum anderen schützt der Umschlag zugleich das wieder fixierte Rückenleder.

Im Zuge der Restaurierung kamen zwei interessante Details zum Vorschein. Im Kopfschnitt des Bandes befindet sich ein etwa 2 x 3 cm großer Abdruck eines Prägestempels, der als Besitzernachweis zu interpretieren ist. Es handelt sich um zwei heraldische Symbole, nämlich sehr wahrscheinlich einen Vogel Strauß und ein Rehhuf. Die Kombination von Vogel Strauß und Hufeisen war ein verbreitetes Wappenbild, das den mittelalterlichen Legenden vom Strauß als Vogel, der Eisen fressen und verdauen kann, entsprungen ist. Die Materie des Buches (römisches und kanonisches Recht) lässt am ehesten an einen geistlichen Vorbesitzer denken.

Als zweite Auffälligkeit ist die besondere Textur einzelner Lagen festzustellen. Auf zahlreichen Seiten sind Abdrücke zu erkennen, die an Gewebemuster erinnern. Dieses Phänomen, das bisher nur bei Inkunabeln aus dem oberdeutschen Raum festzustellen war, wurde erstmals 2011 anhand der Inkunabelsammlung der Universität Graz eingehender untersucht (vgl. Ilse Entlesberger u.a., Atypical Discolourations and Local Differences in Paper-Surface Structures, in: Journal of PaperConservation 12/3 [2011], S. 16-24). Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass wohl tatsächlich feuchte Textilteile während des Druckprozesses unterlegt wurden, um das damals noch schwerere, eigentlich für die manuelle Beschreibung gedachte Papier aufnahmefähiger für die Druckerschwärze zu machen. Dass nun auch das Bayerische Hauptstaatsarchiv ein schönes Beispiel für dieses bis in die jüngste Zeit ungeklärte Phänomen vorweisen kann, ist gewissermaßen das Tüpfelchen auf dem i.

Johannes Moosdiele-Hitzler

 

Eingestellt am 13.07.2021